Federn gelassen: Der Junge und der Reiher


 

Mit "Der Junge und der Reiher" liefert Studio-Ghibli-Meister Hayao Miyazaki nicht nur seinen mutmaßlich letzten (schon wieder), sondern vor allem kompliziertesten und melancholischsten Film ab. Ein Deutungsversuch.

 

FILMKRITIK • In der Regel bin ich ein großer Freund von Filmen, bei denen außer Seh- und Hör-Apparat auch die grauen Zellen etwas zu tun bekommen. Womit ich allerdings kein prätentiöses Erklär- und künstliches Verwirr-Kino für Wannabe-Intellektuelle meine – sondern solche Filme, die mir als Zuschauer eine gewisse Deutungshoheit über ihre Ereignisse erlauben. Wie bei einem guten Pen-and-Paper-Rollenspiel: "Hier hast Du die Regeln, eine interessante Back-Story und eine hübsche Karte mit vieeeelen großen schwarzen Flecken – jetzt mach selber was draus!" Wunderbar!
Im Zeitalter von Streaming-Serien und mega-teuren Blockbuster-Produktionen ist das leider eine Seltenheit geworden – mehreren hundert Mio. Dollar Budget will man eben nichts dem Zufall überlassen. Schon gar nicht, wenn der gemeine Kinogänger mit wenig mehr Aufmerksamkeit gesegnet ist als das durchschnittliche Zylinder-Kaninchen und noch während des Films durch acht verschiedene Social-Media-Feeds gleichzeitig wischt. Also alles schön tot-erklären, damit sich am Ende auch der desinteressierteste Depp für intelligent halten kann.


In einer solchen Zeit sind die Werke des japanischen Animations-Meisters Hayao Miyazaki fast schon ein Anachronismus – und eine Film-Sammlung mit gut gefüllter Studio-Ghibli-Abteilung so etwas wie ein Indiz dafür, dass sich ihr Besitzer für mindestens eine halbe Stunde am Stück auf den Filmgenuss einlassen kann. Wow, was für ein fucking Genie.


Dabei sind Miyazakis Filme über postapokalyptische Märchen-Giftwälder, fliegende Schlösser, kleine Lieferdienst-Hexen, flauschige Waldgeister, die Natur-Götter verteidigende Prinzessinnen, Meerjungfrauen oder kleine Mädchen, die sich im Wunderland der japanischen Yokai-Folklore verirren, wahrlich kein Intelligenztest. Denn fast immer nimmt sich Miyazaki bekannter Vorlagen und Erzähl-Motive an, mit denen auch das westliche Publikum etwas anfangen kann. Um sie dann in ein derart zauberhaft inszeniertes Animations- und Illustrations-Gewand zu kleiden, dass wir es ihm gar nicht nicht weiter übelnehmen, wenn seine Geschichten ab etwa der Hälfte etwas zerfasern und weit weniger geradlinig oder stringent erzählt sind, als es der westliche Zuschauer gewöhnt ist. Denn letztlich sind die Ghibli-Werke eher prachtvolle Welten- und Charakter-Boxen als abgeschlossene Geschichten. Szenarien, aus denen wir selber etwas bauen können – und jedesmal, wenn wir den Film aufs Neue sehen, arrangieren wir die Elemente etwas anders, machen eine neue Erfahrung. Und verweilen auch dann noch für Stunden in diesem zauberhaften Kosmos, wenn wir Kinosessel oder Couch längst wieder verlassen haben.

 



 

Das ist sicherlich kein Guck- und Genuss-Erlebnis, mit dem jeder etwas anfangen kann – aber immerhin ist die Schar der Ghibli- und insb. Miyazaki-Jünger groß genug, um dem japanischen Trickfilm-Studio auch international gigantische Erfolge zu bescheren – und das vor dem Hintergrund von Produktions-Budgets, die für unsere Kino-Breiten geradezu zwergenhaft wirken. Für gerade mal 65 Mio. US-Dollar hat der 83-jährige Altmeister seinen x-ten vermeintlich letzten Film abgedreht. Damit hat "Der Junge und der Reiher" heute so viel gekostet wie aufwendige Hollywood-Trickfilme vor 25 oder 30 Jahren. Wieviel die US-Traumfabrik dafür heute ausgeben würde? Müßige Frage, da von hier ja nur noch Computer-animierte Filme kommen – aber es wäre sicher deutlich mehr.
Dabei sieht "Der Junge und der Reiher" zwar klassisch, aber  nicht altbacken aus: Die Geschichte des jungen Mahito, der nach dem Flammentod seiner Mutter in den Feuern des Zweiten Weltkriegs, raus aus Tokyo und aufs ländliche Anwesen seiner Tante ziehen muss, bleibt zwar etwas hinter der Plastizität und zeichnerischen Raffinesse der bekanntesten Ghibli-Werke zurück, zeichnet aber dennoch ein in der ersten Hälfte märchenhaft schönes, in der zweiten kunstvoll bedrückendes Ambiente von realen und geträumten Welten, das uns über viele Tage beschäftigen wird. Nicht nur wegen der Eindrücklichkeit seiner Bilder, sondern auch wegen der mit ihrer Hilfe verhandelten Themen: Weil Mahitos Tante zugleich seine frischgebackene Stiefmutter ist und seinen kleinen Bruder austrägt, fühlt sich der Großstadt-Junge in der ländlichen Umgebung umso verlorener – zwischen weitläufigen, ursprünglichen Landschaften, verwunschen wirkenden Gebäuden, die eher Bollwerken als Behausungen ähneln und seltsam verschrobenen Gestalten, die bereits früh im Film so aussehen, als hätten wir die andere Welt längst betreten. Denn letztlich gehört auch "Der Junge und der Reiher" – wie so viele Ghibli-Werke – zum Isekai-Genre, zu dessen prominentesten Vertretern in unseren Breiten "Alice im Wunderland" und "Der Zauberer von Oz" gehören. Es geht um den Wechsel von unserer Welt in eine andere, jenseitige, nicht selten fantastische Sphäre, in der fast alles möglich scheint – und den Übergang in diese Welt markieren ein Portal oder Ereignisse wie ein Unfall des Protagonisten.

 



 

Ob die Abenteuer, die Mahito hinter den Pforten eines uralten Turms erlebt, nun real sind oder aber das Resultat eines Fiebertraums, den er infolge einer selbstzugefügten Kopfverletzung durchmachen muss, das ist am Ende ziemlich egal – denn die Wandlung, die sein Charakter dabei erfährt, ist auf jeden Fall echt. Dass es bei Ghibli-Filmen eher um die Reise in Innere als äußere Erfahrungwelten geht, verdeutlicht Mahitos tierischer Reisebegleiter – ein Reiher, der den Einblick in seine wahre und magische Natur in dem Grade zulässt, in dem er sein Innerstes nach außen kehrt. Bis er das Federkleid fast vollständig abstreift und dabei eine ebenso unberechenbare wie zerbrechliche Kreatur entblößt.


Am Ende ist das Verwirrspiel in der anderen Welt aber auch eine Reise in die Geschichte von Studio Ghibli und das schöpferische Werk von Hayao Miyazaki, der sich schließlich sogar selber in diese Geschichte eingebracht hat – in Form des uralten Turmherrn, der verzweifelt nach einem Thronfolger sucht, der die Welten schützen und in Balance halten kann, die er im Laufe seine langen Lebens erschaffen hat … bis das Werk unweigerlich zerbricht.


Darum ist "Der Junge und der Reiher" vielleicht der persönlichste und darüber zugleich traurigste und am stärksten entrückte Film eines Künstlers, der langsam am Ende seines Kunstschaffens angekommen ist und der sich nun fragt, was bleiben wird. Aber vielleicht interpretiere ich das ja auch nur selber in ein Werk hinein, das eben unglaublich viel Spielraum für verschiedenste Interpretationen zulässt – einen Spielraum, der Stärke und Schwäche zugleich ist. In seinen stärksten Momenten wirkt "Der Junge und der Reiher" wie ein augenzwinkerndes "Ghibli"-Best-of – ein Sammelsurium aus Zitaten, das zwar Spaß macht, das deshalb aber kaum eigene Identität aufweist. Oder war genau das Miyazakis Absicht? Die Erschaffung einer Gegenwelt, in der es keine scharfen Grenzen gibt und Sinn und Unsinn ineinander aufgehen? Schade nur, dass sein vermeintlich letzter Film den Zuschauer dabei dermaßen alleine lässt, dass viele diese Reise kein zweites oder drittes Mal antreten werden – und genau das wäre bitter nötig, um diesem faszinierenden Wirrwarr so etwas wie einen echten Sinn abzuringen. Falls es denn einen gibt.


Darum ist "Der Junge und der Reiher" weder das bekömmlichste noch das beste Werk von Miyazaki – aber auf jeden Fall sein rätselhaftestes. (Robert Bannert)


Note: 7.5 (GUT)

 


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend