Extraleben bitte!
Was passiert eigentlich, wenn am Ende unseres Lebens die Lichter ausgehen? Folgt dann der Übergang in ein fantastisches Jenseits mit Engelschören, absturzfreiem Gratis-WLAN, unbegrenzt
lieferbaren PS5-Konsolen und der geheimen neunten Staffel von „Game of Thrones“? Der Verfasser dieses Beitrags ist da eher ein Fan der Reinkarnations-Idee: Nach seinem Ableben verwandelt er sich
in einen galaktisches Logik-Wölkchen und gönnt sich erstmal ein paar dutzend Jahre für die Verarbeitung der im letzten Leben gesammelten Daten. Dabei levelt er ordentlich hoch, verteilt die neu
gewonnenen Punkte auf die verschiedenen Skills für seine Wiedergeburt und wählt seine Vorgeschichte aus einem Katalog. Nur nichts dem Zufalls überlassen!
Hört sich zwar beknackt an, aber für einen Gamer ist es ein ziemlich naheliegender Gedanke. Denn was ist ein Videospiel anderes als ein digitales Dasein, bei dem auf das Verglühen eines jeden
Bildschirm-Lebens eine Art Wiedergeburt stattfindet? Manche Spiele sind bei der Bemühung dieser Metapher gleich so konsequent, dass sie aus jedem weiteren Bildschirm-Leben den neuen Abkömmling
einer Heldensippe ableiten. So geschehen in „Rogue Legacy“, wo der wackere 2D-Rittersmann jedesmal, wenn er das Zeitliche segnet, an einen von drei möglichen Nachkommen abgibt, anstatt selber
wiedergeboren zu werden. Außerdem vererbt er dem Nachwuchs jede während seines glücklosen Versuchs gesammelte Goldmünze brav weiter. So geht echte Selbstlosigkeit: Der nächsten Generation auch
mal eine Chance lassen!
Pandemie-Start 2009
Auf diese Weise bedient Entwickler Cellar Door nicht nur die bereits 2013 neu entfachte Rogue-like-Lust (also auf Spiele, deren Level-Struktur bei jedem Durchgang neu angeordnet wird), sondern
füttert außerdem einen neuen Genre-Virus, der zu dieser Zeit seit knapp vier Jahren grassiert: die „Souls“-Pandemie. Die beginnt im Jahr 2009, als Sony Japan und das kleine Tokyoter Studio From
Software ihr Action-Rollenspiel „Demon’s Souls“ auf die PS3-Gemeinde loslassen. Besonderes Merkmal des infernalischen Fantasy-Trips: Ein schwindelerregend hoher Schwierigkeitsgrad, der das
ungewöhnlich häufige Ableben des Helden als eigenen Spielmechanismus etabliert. Die Logik dahinter: Mit jedem gescheiterten Versuch lernt man dazu, um es beim nächsten Mal hoffentlich besser zu
machen.
Auch eine Story-seitige Erklärung hat From Software für seinen Design-Kunstgriff parat: Der Held ist selber ein untotes Phantom – und als solches strebt er danach, seine geisterhafte
Erscheinung durch das Sammeln von Seelen (das „Souls“-Pendant zu Erfahrungspunkten) wieder lebendiger werden zu lassen. Fällt er Gegnern oder Fallen zum Opfer, zerfasert seine Erscheinung und
wird er – all seiner seit der letzten Wiedergeburt gesammelten Seelen beraubt – zum nächsten Rücksetzpunkt strafversetzt.
Mit diesem geschickt vermarkteten Narrativ um ein im Grunde uraltes Konzept tritt From Software unter Spielern einen regelrechten Sterbekult los. Bis dahin waren Hersteller über viele Jahre darum
bemüht, ihre Titel im Interesse breiterer Vermarktbarkeit zugänglicher, komfortabler oder schlicht einfacher zu gestalten. Diese zunehmende „Erschlaffung“ ihres Hobbys geht offenbar vielen
geübten Gamern so gegen den Strich, dass sie den neuen alten Ansatz regelrecht feiern. Der spielerische Konservativismus siegt, indem er sich einen neuen Anstrich gibt.
Wutausbrüche als Erfolgsrezept
Klar, dass auch Youtuber das Unterhaltungs-Potential des neuen Subgenres für sich entdecken. Indem sie ihrem Publikum zuerst stundenlange Wut-Eskelationen vorleben, um sie dann mit Survival-Tipps
und anderen überlebenswichtigen Strategien zu versorgen. Sie befeuern das „Souls“-Phänomen so stark, dass der Hype rasch zum anhaltenden Trend wird. Ganz gleich, ob es dabei um die von Namco
Bandai vermarktete Kern-Serie „Dark Souls“ geht. Oder um in Zusammenarbeit mit weiteren Herstellern entstandene Masochismus-Exzesse – wie „Bloodborne“ (mit Sony) oder „Sekiro“ (mit Activision).
Oder gleich solche Spiele, die das „Souls“-Prinzip zwar clever abkupfern, aber mit From-Software sonst nichts zu tun haben. Darunter Team Ninjas „Nioh“, „The Surge“ von Deck13 oder Indie-Games à
la „Blasphemous“ und das nur auf den ersten Blick unschuldige Adventure-Füchslein „Tunic“.
Sogar solche Spiele kokettieren inzwischen mit Element en aus dem „Souls“-Subgenre, von denen man das zunächst nicht erwarten würde: Electronic Arts verpasst seinem „Star Wars“-Action-Adventure
„Jedi: Fallen Order“ 2019 „Dark Souls“-artige Lichtschwert-Duelle. Auch Gunfire Games und THQ Nordic entscheiden sich in „Darksiders 3“ 2018 dafür. Ein entscheidender Unterschied dieser Spiele zu
den „Souls“-Games: Weil EA und THQ weniger geübte Gamer nicht von ihren Spielerfahrungen ausschließen wollen, bieten sie leichtere Schwierigkeitsgrade an.
Eine Lösung, die von vielen Spielern auch für das digitale Martyrium made by From gefordert wird: Manch einer würde liebend gerne die Katakomben eines „Dark Souls 3“ erforschen oder durch die
schaurigen Straßen der „Bloodborne“-Gruselstadt Yharnam streifen, ist dafür aber einfach nicht entsprechend gerüstet. Vielleicht mangelt es ihm an der nötigen Geduld, sind seine Reflexe zu
langsam oder hat er neben Beruf und Familie nicht mehr die nötige Zeit und Energie übrig. Ihm bleibt der Einstieg in die fantastischen Welten der From-Designer verwehrt – obwohl sie ihn
eigentlich ansprechen. Warum solchen potentiellen Kunden nicht entgegenkommen, indem man ihnen einen „Einfachen Spielmodus“ anbietet?
From und From-Fans widersprechen diesem Wunsch immer wieder vehement. Ihre Argumentation: „Dark Souls“ & Co. wären perfekt ausbalanciert. Sie durch die Bereitstellung von anderen
Schwierigkeitsgraden zu verändern, der die Gegner vielleicht weniger garstig und den Helden robuster macht – das würde die gesamte Spielerfahrung verfälschen. Ende vom Lied: „Souls“-Spiele
bleiben Profi-Sache.
Schwierig gab’s schon immer
Dabei sind herausfordernde Games, die uns immer wieder gegen denselben Boss oder andere, scheinbar unmachbar schwere Gemeinheiten antreten lassen, nichts Neues: Schon seit frühen 8-Bit-Tagen
beißen sich Controller-Akrobaten im Angesicht feister Brocken, gnadenloser Jump’n’Run-Kurse oder lückenloser Projektil-Breitseiten die Zähne aus. Und je weiter man in die Vergangenheit der
digitalen Spielbude abtaucht, desto härter, teilweise sogar unfairer wird die Daddelware. Und ja, auch hier ergötzt sich schon manch ein Gamer an seiner überirdischen Spielkompetenz. Oder
erleidet eine existenzielle Krise, wenn sein Highscore-Eintrag in der Spielhalle nach unten rutscht.
Denn Computer- und Videospiel-Fans sind in diesen Tagen Mitglieder eine extreme Nischen-Gruppe. Allen Erfolgen des jungen Mediums zum Trotz werden sie oft verhöhnt, verlacht und angefeindet. Das
schweißt die Community zusammen, schafft ein intensives „Wir gegen die“-Gefühl und sorgt für die Entstehung einer Subkultur – eigene, oft Kompetenz-fokussierte Hierarchien inklusive. Wer Spiele
lösen will, muss viel Zeit und Energie investieren – da ist es nur logisch, dass man sich schnell mit dem Hobby identifiziert. Oder sogar das eigene Selbstbewusstsein daran koppelt.
Selbst prominente Entwickler geben diesem Impuls nach: So berichtet „E.T.“-Programmierer Howard Scott Warshaw immer wieder vollmundig davon, dass er in den frühen 80ern keinen Atari-Arbeitstag
beginnen kann, ohne nicht zuvor in der Mitarbeiter-Arcade seinen Highscore zu knacken. Kein Wunder, dass er damit oft mehrere Stunden beschäftigt ist – bevor er sich endlich an den Schreibtisch
trollt.
Was bei den meisten Branchen-Arbeitgebern von heute die Alarmsirenen schrillen lassen dürfte, war für Warshaw laut eigener Aussage aber ein „wichtiges Ritual, um zu überprüfen, ob seine
Fähigkeiten noch intakt sind“. Er knüpfte demnach eine Verbindung zwischen seiner Kompetenz als Spiele-Macher und seinem Talent als Spiele-Konsument.
Ein ähnliches Verhalten kann man seit einigen Jahren bei „Soulsborne“-Fans (wie das Subgenre auch manchmal genannt wird) beobachten: Bist Du nicht hart genug, bist Du nicht würdig.
Fan-Adresse bekannt
Für Kreativschaffende und Hersteller, die sich mit ihrem Programm auf derartige Nischen stützen, ist das ebenso einhegende wie ausgrenzende Verhalten von Communities Segen und Fluch zugleich:
Einerseits kann man Nischen heutzutage wunderbar präzise adressieren. Andererseits lässt die häufig Veränderungs- und Entwicklungs-resistente Polung dieser Szenen nur schwer Wachstum zu. Je
spezieller das verkultete Objekt oder Medium, desto schwieriger wird es, den Fans die Sorte Veränderung näherzubringen, die man für eine Ausweitung der Zielgruppe bräuchte.
Trotzdem gelingt From Software dieses Jahr ein bemerkenswertes Kunststück: Obwohl „Souls“-Spiele wegen ihres hohen Schwierigkeitsgrades auf viele Spieler abschreckend wirken, wird „Elden Ring“ zu
einer Art Massen-Phänomen. Vielleicht, weil man durch die offene Struktur des Spiels besonders schwierige Stellen zunächst umgehen kann. Darum erscheint „Elden Ring“ auf den ersten Blick wie eine
Art „Light“-Variante des „Souls“-Konzepts. Und wie die perfekte Einstiegsdroge in die faszinierende Welt des digitalen Schmerzes.
Wenn die Buschtrommel dröhnt
Das Resultat ist eine gigantische, über mehrere Monate anhaltende Medien-Buschtrommel, gegen deren Lautstärke sogar Sonys teurer produziertes und technisch ausgefeilteres „Horizon: Forbidden
West“ irgendwann den Kürzeren zieht. Trotz des nischigen Konzepts verkaufen From und Namco Bandai von ihrem Open-World-„Souls“ binnen weniger Wochen über 13 Millionen Stück – ein Erfolg, der
sogar Entwickler und Publisher unvorbereitet trifft. Journalisten und Influencer scheinen sich einig zu sein: Eine ähnliche Open-World-Revolution wie in „Elden Ring“ gab es zuletzt bei „Skyrim“.
Gelobt wird neben der Spielbalance und der Herausforderung das Welten-Design. Denn das wäre weniger beliebig als bei den meisten modernen Open-World-Spielen und würde nicht so wirken, als käme es
aus dem Algorithmus-Baukasten für Berg-, Wald-, Fels- und Wüsten-Landschaften.
Bei all der lautstark ins Netz gebrüllten Euphorie übersieht man allerdings einiges: Nur weil „Elden Ring“ und „Forbidden West“ beide in einer offenen Spielwelt handeln, sind sie noch lange nicht
blutsverwandt. Sondern bestenfalls verschwägert – wenn überhaupt. Das eine will ein riesiger Abenteuerspielplatz sein – das andere eine Arena, in der nur die Besten überleben. Das eine
Spiel möchte uns – unabhängig von unserer spielerischen Kompetenz – eine gute Zeit bescheren. Das andere bestraft uns, sobald wir einen Fehler machen.
Welche Art von Abenteuer-Trip wir bevorzugen, liegt bei uns. Dass beide Spiele zwangsläufig miteinander verglichen werden müssten, ist aber ein fundamentales Missverständnis. Weil beide Titel
innerhalb des gleichen Zeitfensters erscheinen, wird dem Konsumenten aber genau dieses Bild vermittelt.„Forbidden West“ will bei vielen Journalisten nämlich nicht so recht verfangen. Zum einen,
weil es in vielerlei Hinsicht mehr wie ein gigantisches „Zero Dawn“-AddOn als eine neue Spielerfahrung wirkt. Zum anderen, weil viele Kollegen von den immer größer werdenden Open-World-Games
genervt sind. Und weil sie finden, dass „Elden Ring“ den Mut zum Rückschritt hat. Weg vom Komfort derjenigen Open-World-Generation, die mit „Skyrim“, „Assassin’s Creed“ und „Far Cry“ ihren Anfang
nahm. Resultat: Auf einmal steckt der Nachfolger des 2017 noch ekstatisch gefeierten „Horizon: Zero Dawn“ Prügel ein – offenbar stellvertretend für alle Open-World-Spiele der letzten fünf
Jahre.
Kleiner als es aussieht
Nur: Eigentlich bietet „Elden Ring“ gar nicht das, was die meisten Spieler von einem Open-World-Spiel erwarten dürften. Vielmehr verdichtet es all die Begegnungen, Szenarien und
Herausforderungen, die größere Open-World-Spiele bereithalten, auf ein wesentlich kompakteres Areal. Statt den Spieler eine grenzenlose Welt bereisen zu lassen, stapelt es kleinere, manchmal
Level-Hub-ähnliche Areale hinter-, neben- und übereinander: Die kann man über verschiedene Zugänge fast immer erreichen, aber die Bewegungsfreiheit und Weite eines „Breath of the Wild“ oder
„Forbidden West“ offeriert es nicht. Besonders für die filigrane Balance der „Souls“-Spiele ist diese Art von Weltenbau eine kluge Entscheidung: So kann man jedem einzelnen Schauplatz seine ganz
eigene Spielbalance verpassen und die verschiedenen Hubs anschließend aufeinander abstimmen.
Bei größeren Open-World-Spielen ist das schon ein bisschen kniffliger: Ein „Horizon: Forbidden West“ oder „Assassin’s Creed: Valhalla“ sind so riesig und so offen, dass die Spiel-Designer
unmöglich vorhersagen können, wann der Spieler welche Aufgabe angeht. Darum verteilen sie eine Vielzahl verschiedener Jobs, Figuren und nützlicher Gegenstände über das gigantische Terrain, damit
sich der Spieler im Zweifelsfall selber helfen kann. Ohne bei jedem Problem etliche virtuelle Kilometer zum anderen Ende der Karte latschen zu müssen. Und damit er in diesem Wust nicht den
Überblick verliert, versieht man all das mit verschiedenen Markern – was die digitale Landschaft manchmal mehr wie die „Guided Tour“ durch einen Vergnügungspark als ein gefährliches
Abenteuer erscheinen lässt.
Die vergleichsweise überschaubaren und in kleinere Portionen unterteilten Zwischenlande von „Elden Ring“ brauchen solche Stützräder nicht: Hier kennt man sich auch aus, ohne dass jemand Schilder
aufstellt. Trotzdem wirkt die Welt größer als sie ist – zum Beispiel, weil die vielen, ausladenden Kämpfe und die häufigen Bilschirmtode die Brutto-Spielzeit ordentlich in die Höhe
schrauben. Dadurch entsteht die Illusion eines ausgedehnten Schauplatzes – obwohl man nicht lange reist, sondern vor allem lange kämpft.
Falsche Rückschlüsse
Das ist ein bisschen so, als würde man anstelle des gigantischen Open-World-Streckennetzes im neuen „Forza Horizon“ lieber durch einen alten „Sega Rally“-Automaten fahren. Und anschließend
behaupten, es handele sich um das bessere Spiel, weil die wenigen im Sega-Coin’Op enthaltenen Kurse viel erinnerungswürdiger wären. Obwohl man sie in Wirklichkeit einfach nur schneller und besser
kennt.
Natürlich ist es legitim, die komprimiertere Challenge zu bevorzugen. Denn trotz ihres höheren Schwierigkeitsgrades vermittelt sie uns das Gefühl, irgendwie beherrschbarer zu sein: Wie ein
LEGO-Technic-Modell, das mit zwar wenigen Steinen auskommt, aber auf Profi-Bautechniken setzt.
Aber ist das für die ganze Familie geeignete Monster-LEGO-Set deshalb schlechter? Und sollte man das Technic-Set vorbehaltlos immer und immer wieder jedem empfehlen? Und wäre es deshalb für LEGO
verkaufssteigernd, wenn man künftig nur noch Profi-Sets veröffentlichen würde? Aber genau hierzu neigt die Spiele-Branche: Weil man sich allzuoft noch immer als Nischenmarkt versteht. Und gerne
solche Mechanismen implementiert, die von den lautesten Nerds gefordert werden. Auf einmal baut jeder Hersteller Schleichspiel- oder „Soulsborne“-Mechanismen in seine Produkte ein, weil ja
auch andere damit erfolgreich waren. Ganz gleich, ob es zum eigenen Spiel passt oder nicht. Weil man einem Trend folgt, ohne seinen Auslöser und dessen Mechanismen richtig verstanden zu
haben.
Deshalb ist der Autor dieses Beitrags zwar dafür, „Elden Ring“ und andere „Soulsborne“-Spiele in vollen Zügen zu genießen – aber vielleicht etwas … leiser. Ohne dabei wütend auf alles
und jeden einzudreschen, der nicht mitmacht.
(Robert Bannert)