Meuchelnde Open-World-Entdecker, Dauerfeuer-Ego-Trips und unermüdliche Latzhosen-Träger: Wann und warum wir von bestimmten Spiele-Marken die Nase voll haben. Oder auch
nicht.
KOLUMNE • Schnaufend und prustend joggt meine schwer beladene Wikinger-Kriegerin durch den knietiefen Schnee und hinterlässt dabei eine eindrucksvolle Furche in der weißen
Pracht. Während mir der Dolby-Digital-Wind von allen Richtungen um die Ohren pfeift, höre ich von hinten schwache Stimmen – zuerst weit entfernt, dann immer näher.
„Du hast meinen Bruder getötet!“, schallen die Rufe eines Verfolgers durch die raue Winternacht. Ich weiß zwar nicht, welchen von den vielen, vielen Brüdern die Stimme meint … aber ich bin nicht
darauf erpicht, es herauszufinden. Allerdings ist die Meute schon zu nah, als dass ich noch rechtzeitig zu meinem am Fluss vor Anker liegenden Langschiff und meiner Crew entkommen könnte.
Roter Schnee
Also gehe ich vor einem Baum in Stellung, zücke meine Axt und baue meinen pelzbesetzten Turmschild in Erwartung eines Pfeilhagels trotzig vor mir auf – gerade noch rechtzeitig … denn
schon spüre ich, wir mir die ersten Erschütterungen durch den Arm fahren, als mehrere brennende Pfeile im Schild einschlagen. Kurz darauf sehe ich die Meute durch die Bäume näher kommen
– mit blitzenden Schwertern, wirbelnden Morgensternen, dick gepolsterten Waffenröcken, grimmigen Gesichtern und knurrenden Wolfshunden.
Ein kurzer Moment des Innehaltens, dann bricht die Hölle los und färbt sich der Schnee blutrot: Ich fräse mit wirbelnder Axt eine Schneise der Verwüstung durch den feindlichen Pulk, schüttele
fluchend einen Hund ab, der sich gerade in meinem Bein verbeißen wollte und feuere dann – innerhalb eines einzigen Atemzugs – gleich mehrere Pfeilsalven in die Runde, wo sich die ätzenden
Giftgeschosse in das dampfende Fleisch meiner Feinde bohren.
Zum Glück habe ich dabei genug Adrenalin für ein Spezialmanöver gesammelt – und entfessele prompt die Hölle: So leise wie ein Schatten und so schnell wie ein Blitz husche ich zwischen den
verbliebenen Feinden umher und durchlöchere sie hinterrücks mit meiner versteckten Klinge … so schnell, dass sie gar nicht merken, dass sie im Grunde schon tot sind
Zeit, zu meinem Schiff zurückzukehren. Es wollen noch Klöster geplündert, Dörfer gebrandschatzt, Familienväter gemeuchelt und eroberte Ressourcen zurück ins eigene Dorf verschifft werden. Ach ja,
das Wikingerleben …
Job? Wikinger!
Inzwischen weiß ich übrigens eine ganze Menge mehr über die rauen Nordmänner als früher – und längst nicht alle Informationen habe ich direkt aus „Assassin's Creed: Valhalla“, in dem ich seit
Wochen durch Wellen, Eiswüsten, idyllische Graslandschaften und die Wälder „Englalands“ pflüge. Manche weiß ich aus der TV-Serie „Vikings“, in die ich jetzt endlich – mit starker Verspätung
– eingestiegen bin. Andere habe ich mir aus einem „Was ist Was?“-Schmöker geklaut, weitere habe ich in Comics aufgestöbert. Und in einem wissenschaftlichen Artikel der „Science“ habe ich
erfahren, dass die Bezeichnung „Wikinger“ keine Sache der Herkunft war, sondern des Jobs: Langschiffe, Äxte, draufhauen, fette Beute. Man könnte „Valhalla“-Heldin Eivor also genauso gut als
„plündernde Seefahrerin“ bezeichnen. Stattdessen nennen die Sachsen im Spiel sie regelmäßig „Dänin“ … obwohl meine blonde, vernarbte Zopfliese eigentlich aus Norwegen kommt. Tz, immer diese
Vorurteile …
Kurzum: Seit dem 10. November läuft meine Series X auf Hochtouren und bin ich im Wikinger-Fieber. Ähnlich erging es mir bei den Original-Assassinen aus dem Morgenland, zur Zeit der französischen
Revolution, beim Schiffe-Versenken in der Karibik, im alten Ägypten und bei meiner Odyssee durchs antike Griechenland: Wann immer Ubisoft mit einer neuen Meuchel-Mär vor die Mattscheibe lockt,
bin ich nicht nur Feuer und Flamme für das Spiel, sondern sauge außerdem alles über die jeweilige Epoche in mich auf, was ich in die Finger kriegen kann. Will heißen: Meine Begeisterung für die
Serie hat seit dem ersten Teil 2007 nie ernsthaft nachgelassen und nimmt mitunter fast Fan-artige Züge an … obwohl ich mich normalerweise vehement gegen diesen Begriff wehre. Denn mal
ehrlich: Wer will schon ein Fan(atiker) sein?
Gameplay-Unterbau als Marken-DNA
Ja, Enttäuschungen gab es auch schon so einige – und Anlass für Kritik ebenfalls. Denn so wie der „Wikinger“ keine Herkunft, sondern eher einen Verhaltenskodex und einen Beruf beschreibt,
ist auch „Assassin's Creed“ im Grunde nur noch ein spielerisches Regelwerk, das man über verschiedene Historien-Szenarien stülpt. Üppig garniert mit leckeren Fantasy-, SciFi- und
Mystery-Elementen. Die passen zwar nicht immer ideal zusammen – aber die Schwächen bei der Komposition fängt man meist durch die schiere Beilagen-Fülle auf. Ein bisschen erinnert mich das an
die Verfahrensweise von offenen Pen-and-Paper-Rollenspielen wie „Dungeons & Dragons“: Mit ein und demselben Regelwerk kann man seine Gruppe durch kompatible Weltenboxen wie „Forgotten
Realms“, „Dark Sun“ oder „Spelljammer“ stiefeln lassen – mit anderen Kulturen, Bewohnern, Monstern und natürlich einer ganzen Fülle von passenden Sonderregeln. Nach dieser Logik ist
„Assassin's Creed“ schon lange kein Universum mehr, sondern vor allem Gameplay-Unterbau.
Nur: Bereits das Gameplay war noch nie so offen angelegt wie das Regelwerk eines „D&D“-Spiels. Die Eichhörnchen-artigen Kletter-Talente der Assassinen, der berüchtigte und für die Serie
bezeichnende „Leap of Faith“ („Todessprung“), das Hinterrücks-Erdolchen ahnungsloser Feinde mit der „versteckten Klinge“, die langen Gewänder und das verhüllte Gesicht: All diese Features und
Elemente sind das Erbe einer Serie, die ihre historischen Wurzeln im Morgenland der Kreuzzüge hat und die man jetzt zwanghaft in verschiedene Epochen zu exportieren versucht, um die DNA der Serie
aufrechtzuerhalten. Und damit das „Assassin's Creed“-Logo auf der Box legitimieren will, ohne dass man die Spiele vielleicht nicht mehr so gut verkaufen würde. Eingebettet in eine
Jetzt-Zeit-Hintergrundgeschichte, die selbst von glühenden Verehrern der Serie längst als störend empfunden wird, weil sie das eigentliche Abenteuer zu einer digitalen Chimäre degradiert
– einem „Spiel im Spiel“. Ursprünglich handelte es sich dabei um einen erzählerischen Kniff von Serien-Erfinder Patrice Désilets, um die technischen Einschränkungen während der Xbox-360- und
PS3-Ära zu erklären – wie zum Beispiel plötzlich auftauchende Begrenzungen des Spielgebiets oder zu spät ins Bild ploppende Objekte. Will heißen: Man machte aus der Not eine Tugend.
Allerdings gibt es diese Not heute nicht mehr – der Simulations-Unterbau des durch den Templer-Konzern Abstergo erschaffenen „Animus“ ist überflüssig geworden. Und mit ihm im Grunde das
ganze Erzählgerüst, das sich seit jeher an diesem Element entlang hangelt.
Also was tun, um eine Serie am Leben zu erhalten, die für den eigenen Konzern so wichtig ist, aber ihren Zenit eigentlich längst überschritten hat? Aufhören? Sie in ein erzählerisch entschlacktes Spin-Off überführen? Oder einfach darauf hoffen, dass die positiven Seiten weiterhin geschickt über den ganzen Blödsinn hinwegtäuschen, der zwangsläufig mit derlei Altlasten einhergeht? Ubisoft hat sich für letztere Option entschieden.
Flexible Hintergrundgestaltung
Bei der Ausgestaltung seiner zweiten Premium-Marke „Far Cry“ war der französische Hersteller etwas geschickter: Die inzwischen ebenfalls leicht verrollenspielte Shooter-Serie hat sich von Anfang
an nur als Gameplay-Unterbau verstanden, der sich allenfalls einigen lockeren Stimmungs- und Szenario-Prämissen verpflichtet fühlt. Wie zum Beispiel dem Kampf gegen durchgeknallte Diktatoren und
der Befreiung eines Bananen-Staats, der kuschelig an den Randregionen der Zivilisation gelegen ist. Ursprünglich kommt die Serie aus dem Dschungel-Ambiente, aber inzwischen war man sogar in den
Urwäldern des US-Hinterlands, im Himalaya und in der Urzeit unterwegs. Nächste Station (vermutlich Ende 2021): Ein Kuba-ähnlicher Inselstaat unter dem Joch eines von Giancarlo Esposito (u.a.
bekannt durch als Moff Gideon in „The Mandalorian“) verkörperten El Presidente.
Aber hat „Far Cry“ durch die sich häufigen wiederholenden Spielmechanismen ebenfalls seinen Zenit überschritten? Vermutlich nicht – ebenso gut könnte man fragen, ob Mario inzwischen überflüssig
ist, weil er meistens springt. Und nur selten seine Kleidung wechselt.
Apropos: Nintendo macht seit über 30 Jahren beispielhaft vor, wie man Marken neu erfindet, ohne ihre DNA wirklich zu verändern – denn das Erbgut von Mario, Link, Samus, Fox & Co. ist an
ikonische Spielkonzepte getackert. An Spielkonzepte und Genres, deren Begründer diese Helden waren. Man genießt hier quasi das Vorrecht des Erfinders. Die von Mario, „Zelda“ und „Metroid“
abgeleiteten Regelwerke sind bis heute für ihre jeweiligen Games-Strömungen noch immer so bezeichnend, dass man schwerlich gegen sie verstoßen kann, ohne das angestammte Genre zu verlassen. Fast
jedes Adventure ist automatisch auch ein bisschen „Metroidvania“- oder „Zelda“-like und kein Jump’n’Run kommt um „Super Mario“-Zitate herum – das liegt in der Natur der Sache.
Starke Helden
Dass die ursprünglichen Nintendo-Marken bis heute so gut funktionieren, ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass sie mit starken Figuren gekoppelt sind – starke Figuren, deren jeweilige
Erzählung so vage gehalten und universell ist, dass sie niemals wirklich altert oder langweilig wird. Und immer wieder neu erzählt werden kann, ohne dabei ihre Konsistenz zu verlieren. Das ist
ein bisschen wie im Entenhausen-Kosmos: Die Figuren und ihre Handlungsprämissen sind (fast) immer identisch, aber sie passen in so ziemlich jedes Szenario – und ihre Geschichten müssen auch
nicht unbedingt einen Bezug zueinander haben. Oder anders ausgedrückt: Ente süßsauer geht immer.
Einen ähnlich Weg wie Ubisoft hat Activision bei der Gestaltung seiner „Call of Duty“-Reihe eingeschlagen: Spielerisch liefert man meist geradlinige Shooter-Kost. Das „Call of Duty“-Siegel indes
steht vor allem für die Art der Blockbuster-Inszenierung, eine nicht selten patriotisch aufgeladene Geschichte und natürlich meist militärischen Unterbau. Inzwischen beheimatet die Marke eine
ganze Reihe in sich geschlossener Sub-Serien, die wiederum eigene, hermetisch abgeriegelten Kosmen darstellen. Die größte Stärke der Marke: totale Massen-Kompatibilität und eine emsige
Multiplayer-Community.
Ihr größtes Problem: Sich im Zeitalter von anspruchsvollen Open-World-Giganten neu zu erfinden und dabei den richtigen Handlungsrahmen abzustecken. Weltkriegs-Szenario und Anti-Terrorkampf sind
recht ausgelutscht, das eigentlich spannende Science-Fiction-Szenario bei vielen Serien-Fans leider durchgefallen. Was bleibt da noch, wenn man jedes Jahr aufs Neue liefern will?
Zu oft und zu viel
Und genau damit sind wir bei einem zentralen Makel vieler Spiele-Serien angekommen: Eine Marke über viele Jahre systematisch auszuschlachten – das bringt sie nicht zwangsläufig in
Bedrängnis. Macht man es sich aber zum Ziel, jedes Jahr in die Wiederholung zu gehen, dann hat man ihren Zenit schnell überschritten – und danach geht es oft nur noch bergab. Activision
gehen durch den jährlichen „Call of Duty“-Marathon allmählich die bleihaltig verhandelbaren Themen aus, bei den „Skylanders“ hat man es mit der gleichen Taktik innerhalb nur weniger Jahre
übertrieben. Ubisoft wiederum dehnte die ursprünglich als schlichte Trilogie angelegte „Assassin’s Creed“-Marke durch jährliche Releases so sehr aus, dass Qualität und Beliebtheit der Serie zu
bröckeln begannen. Inzwischen ist man deshalb zu einem „Alle Jahre wieder“-Veröffentlichungsplan übergegangen und liefert auf meist hohem Open-World-Niveau- Trotzdem ist Skepsis gegenüber neuen
„Assassin’s Creed“-Teilen noch immer verbreitet.
Und was ist mit Nintendo? Bei dem Switch-Hersteller vergeht kaum ein Jahr, ohne dass wenigstens ein Auftritt des Klempner-Clans durch den Release-Fahrplan hupft. Dass die Omnipräsenz von Mario,
Luigi & Co. trotz ihrer Regelmäßigkeit nicht stört, liegt in den vielen verschiedenen Spiele-Genres begründet, die man hier inzwischen bedient: Gespenster-Jagdspiele („Luigi’s Mansion“),
Rasereien („Mario Kart“), Mini-Game-Sammlungen („Mario Party“), Knobel-Eskpaden guter Freunde („Captain Toad: Treasure Tracker“) und Prügel-Auftritte („Smash Bros.“) gehören ebenso
selbstverständlich zur Klempner-Vita wie Rollenspiele à la „Mario & Luigi“ oder „Paper Mario“. Und selbst Jump’n’Run-seitig gibt man sich angenehm vielseitig: 2D-Hupfereien wie „New Super
Mario Bros. U“ wechseln sich mit isometrischen Geschicklichkeits-Parcours wie„Super Mario 3D World“ ab, während man mit Titeln wie „Super Mario Galaxy“ oder „Super Mario Odyssey“ das
Ursprungs-Genre alle paar Jahre neu absteckt. Das Geheimnis dahinter: Der kleine Klempner definiert sich nicht über seine Profession, sondern seine PERSON.
Haudegen sind die besten Helden
Zugegeben: Einen starken Spiele-Helden etablieren – das funktioniert vor allem dann, wenn man zu den Pionieren des Genres gehört. Dazu zählen Haudegen wie Mario oder Lara Croft, aber auch etwas
jüngere Frontfiguren wie Professor Layton oder Phoenix Wright. Alle stehen entweder für die Evolution eines Spiele-Genres oder sind wenigstens an eine Sammlung charakteristischer
Gameplay-Mechanismen geknüpft – springen, kraxeln, rätseln, labern.
Merke: Starke Charaktere sind auch im Games-Bereich Trumpf – aber man kann ihren Erfolg nicht erzwingen. Hätte sich Ubisoft für seine Assassinen-Reihe von Anfang an einem einzigen Meuchler
verschrieben, wären uns vermutlich einige aufregende Historien-Ausflüge verwehrt geblieben. Und unter einem Story-seitig weniger einschränkenden Titel wie „Historical Adventures“ hätte sich die
Marke kaum verkauft.
Fazit: Wann eine Serie ihren Zenit überschritten hat und entweder pausieren oder sich gleich ganz zur Ruhe setzen sollte, ist zwar individuell verschieden, aber übereifrige
Wiederholungstäter werden am schnellsten zum Wiedergänger. Es sei denn, sie besitzen Freiheit und Frechheit, ihr angestammtes Regel-Set zu verlassen und spielerisch zu experimentieren. (rb)