Sie raffen, schnappen, grabschen und kaufen alles, was nicht niet- und nagelfest ist – und nicht selten landen die Einkäufe nach kurzer Zeit im Schredder: elektrospieler über Vor- und
Nachteile der Studio- und Marken-Kauflust.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Kind. Und falls sie sowieso schon eins haben: Stellen Sie sich einfach Ihr eigenes vor. Oder eines davon. Und zwar in ziemlich genau dem Alter, in dem Sie
feststellen, dass sie oder er ein fertiger Mensch ist. Kurz davor, das Nest zu verlassen.
Jahr für Jahr haben sie zeitliche, emotionale und monetäre Ressourcen in diesem Menschlein versenkt. Damit es irgendwann auf eigenen Beinen stehen und selber kleine Klone produzieren kann, die
ihm dann ebenfalls auf Nervenkostüm und Brieftasche steigen.
Dann kommt der große Tag: Mit Tränen in den Augen (und voller Hoffnung auf ein bisschen mehr Zeit und Geld) stehen sie in der Tür und drücken den Nachwuchs zum vorerst letzten Mal, bevor er sich
verabschiedet, um die erste eigene Wohnung zu versauen. Äh, zu beziehen. Sicher: Sie oder er wird immer wieder auf der Matte stehen, um Ihren Kühlschrank zu plündern und Mama oder Papa unter
Wäschebergen zu begraben – aber irgendwann ist auch das vorbei. Dann sieht man sich nur noch an Weihnachten. Oder im Altenheim. Wie schön. Der Kreislauf des Lebens.
Fazit: Alles richtig gemacht! Jetzt nur noch dezent abtreten und sich selber fachgerecht kompostieren lassen. Ende der Geschichte.
Studio-Kinder
Oder vielleicht doch nicht? Denn unser familiäres Beispiel lässt sich ganz wunderbar auf das Geschäftsleben und Unternehmertum übertragen – nur wird hier aus dem „Kreislauf des Lebens“ der
„Kreislauf der Gier“. Und investiert man viel zu oft nur deshalb Energie oder Geld in ein Projekt, weil man es anschließend ordentlich melken will. Auf einmal geht es nicht mehr darum, der Welt
ein „Ideen-Kind“ zu hinterlassen – sondern darum, dass einem dieses Kind später die Altersversorgung sichert. Oder eine schöne Yacht. Naja, momentan wohl eher ein Eigenheim mit
Luftschleuse.
Auch in der Games-Branche ist diese Vorgehensweise längst gang und gäbe: Früher haben Spiele-begeisterte Tech-Enthusiasten Spiele-Schmieden wie Factor 5, Origin (Richard Garriot) oder Bullfrog
(Peter Molyneux) gegründet, weil sie sich selbst verwirklichen wollten. Klar – und idealerweise auch eine Menge Geld verdienen.
Aber was, wenn man nach mehreren fetten Jahren merkt, dass man ausgelaugt ist – von dem stressigen Entwicklungsprozess? Und schlicht keine Lust mehr hat, die Nacht zum Tag zu machen? Oder
man sich trotz allen Erfolgs mit dem Umstand konfrontiert sieht, dass ohne Risiko-reiche Finanzspritze kein Wachstum mehr möglich ist? Wenn die einstige Garagen-Bude so rasant gewuchert ist, dass
man kaum Gelegenheit hatte, echte Zukunftspläne zu schmieden? Und man jetzt nicht mehr so schnell aufrüsten kann, wie es einem die rasante technische Entwicklung eigentlich diktiert?
Zur Adoption freigeben
Dann könnte es an der Zeit sein, das über Jahre sorgsam gehegte und gepflegte Kind zur Adoption und in die Obhut eines „Elternhauses“ zu übergeben, in dem es mehr Möglichkeiten genießt
– ungehindert wachsen und gedeihen kann. Zumindest in der Theorie. Denn: Werden sich die neue Eltern genauso liebevoll um das Kind kümmern wie die … naja … leiblichen? Hat
Electronic Arts sich ebenso gut um Origin, Bullfrog, Kingsoft oder Westwood gekümmert wie ihre Gründer? Oder Microsoft um Lionhead?
Nein, denn keines dieser Studios gibt es noch.
Die Entwicklungs-Ressourcen und schließlich auch die Marken dieser Firmen wurden assimiliert … oder gleich komplett über Bord geworfen. Und um bei der Kinder-Metapher zu bleiben: Der früher
übermütig durchs hohe Gras tobende Wildfang wurde so lange gezähmt und gezüchtigt, bis er zu einem braven, gesichtslosen System-Soldaten wurde und anonym in der grauen Masse verschwand. Auch ein
mögliches Ende der Geschichte – nur ein weit weniger befriedigendes.
Gut zu beobachten am Beispiel Rare: Der ehemalige Nintendo-Partner, der besonders zu N64-Zeiten Meilensteine wie „Banjo-Kazooie“, „Diddy Kong Racing“, „Golden Eye“ oder „Perfect Dark“ ablieferte,
sorgt heute kaum noch für Aufsehen. Die einzige nennenswerte Entwicklung der früheren Kultschmiede während der Jahre seit der Übernahme durch Microsoft: „Sea of Thieves“. Und selbst das trägt
kaum noch Spuren der einstigen Rare-DNA. Es ist der – zum Glück überdurchschnittliche – Output irgendeines beliebigen Studios. Mehr nicht
Für die leiblichen Eltern war es freilich ein lohnendes Geschäft – und nun hat man mehr als genug Moneten, um einen Ruhestand zu genießen, denen ihnen der Nachwuchs als selbständiges
Individuum nicht hätte bieten können. Und theoretisch kann es ihnen nun schnurz-egal sein, dass die Freunde des Sprösslings nach dessen Umzug in eine andere Stadt bittere Tränen weinen. Auf
einmal erkennen sie ihren einst geliebten Kumpel nicht mehr wieder – er ist von einer eigenständigen Persönlichkeit zum Abziehbild geworden.
Zum Melken gegründet
Klar, abgesehen von unverbesserlichen Indie-Individualisten wurde und wird längst nicht jedes Studio aus purer Leidenschaft gegründet – oder aus dem Bestreben heraus, sich selbst zu
verwirklichen. Aber richtig problematisch wird's, wenn man seine (Studio-)Kinder nur noch für monetäre Zwecke züchtet. Dafür, eines Tages auf dem (Sklaven-)Markt feilgeboten und an den
Meistbietenden verschachert zu werden. Wenn jede Anstrengung und jede Investition nur noch mit dem Plan im Hinterkopf getätigt wird, den Verkaufswert des Kindes zu steigern. Nicht selten
entpuppen sich die vermeintlich wohlmeinenden Onkel und Tanten im Hintergrund, die sich von Anfang an (monetär) an der Erziehung des Sprösslings beteiligt haben, nur als Rendite-Jäger. Immerhin
soll ich das Investment ja lohnen.
Auch dafür gibt es prominente Beispiele: So wurde das ehemals unabhängige Rollenspiel-Wunderkind Bioware maßgeblich von einer Investoren-Gruppe gestützt, zu deren Gründern der spätere
Electronic-Arts-Boss John Riccitiello gehörte. Anfang der 2000er-Jahre steigt der Wert des einstigen Zwergs ins Unermessliche – bekannten RPG-Marken wie „Star Wars: Knights of the old
Republic“, „Neverwinter Nights“, „Mass Effect“ und dem zu diesem Zeitpunkt zwar schon bekannten, aber noch unveröffentlichten „Dragon Age“ sei Dank. Spiele, die über Publisher wie Atari,
LucasArts und Microsoft erschienen sind.
Genau der richtige Zeitpunkt also, um den nicht mehr ganz so „Kleinen“ zu verhökern. Der Hammer fällt – und den Zuschlag bekommt Electronic Arts. Für 860 Millionen US-Dollar. Großer
Profiteur des Deals: Riccitiello. Der hat als Geschäftsführer von Electronic Arts dafür gesorgt, dass sein Arbeitgeber fast eine Milliarde Dollar für den Deal bereitstellt – und als
Mit-Eigentümer von Bioware (über den Umweg Risiko-Kapitalgeber) hat er persönlich daran verdient. So macht man im Medien-Business Geschäfte!
Bioware geht also in den Besitz eines Publishing-Monsters über, das – darüber haben wir schon weiter oben referiert – nicht unbedingt dafür bekannt ist, mit zugekauften Studios und
ihren Marken besonders sorgfältig umzugehen. Und tatsächlich: Heute ist der einst für seine sorgsam erzählten Geschichten bekannte RPG-Profi kaum wieder zu erkennen. Spätestens seit dem
„Anthem“-Drama habe viele einstige Fans das Vertrauen in die kanadische Abenteuer-Schmiede verloren.
Auf Shopping-Tour
Trotzdem hat das Beispiel „Studio- oder Marken-Zukauf“ während der letzten Jahre weiter Schule gemacht: Microsoft grabscht „Hellblade“-Macher Ninja Theory, schluckt „Forza Horizon“-Entwickler
Playground und die beiden Rollenspiel-Experten inXile („Wasteland“) sowie Obsidian („Pillars of Eternity“, „Fallout: New Vegas“, „The Outer Worlds“). Passend dazu verleibt man sich dieses Jahr
für kolossale 7,5 Milliarden US-Dollar Bethesda ein und macht damit prominente Brands wie „Fallout“, „The Elder Scrolls“ oder „Doom“ theoretisch Windows- bzw. Xbox-exklusiv.
Inzwischen ist man auch bei den Österreichern von THQ Nordic auf Shopping-Tour: Der zur schwedischen Embracer Group gehörende Publisher hat sich längst darauf spezialisiert, brachliegende
Franchises wieder zu beleben – darunter „Gothic“, „Darksiders“ (aus dem Nachlass der Original-THQ-Gruppe), „Spellforce“, „Spongebob“, „Destroy all Humans“ und jüngst sogar „Kingdoms of
Amalur: Reckoning“.
Studio-seitig hat man ebenfalls zugeschlagen: Die ehemaligen Crytek-Texaner von Gunfire Games gehören heute ebenso zum Studio-Portfolio des Publishers wie viele überwiegend deutsche
Traditions-Schmieden – darunter die „Gothic“ und „Elex“—Erfinder von Piranha Bytes, der Mobile-Experte HandyGames, die für das „Great Giana Sisters“-Comeback bekannten Offenburger von Black
Forest Games sowie Grimlore Games aus München. Sogar das Münchener Publishing- und Vetriebs-Monster Koch-Media mit dessen Games-Label Deep Silver wurde geschluckt und gut durchverdaut. Derweil
wurschtelt ein neu gegründetes Team aus Barcelona an dem Remake von Piranha Bytes erstem „Gothic“-Abenteuer.
Sony dagegen gibt sich vergleichsweise bescheiden: Hier hat man nach vielen Jahren der ohnehin schon engen Zusammenarbeit endlich Insomniac gekauft – die Traditions-Fabrik hinter seit jeher
Sony-exklusiven Marken wie „Ratchet & Clank“, „Resistance“ oder jüngst auch „Marvel's Spider-Man“ bzw. „Spider-Man: Miles Morales“. Ansonsten setzt man entspannt auf die bereits existenten
Inhaus-Entwickler – darunter zuverlässige Blockbuster-Lieferanten wie „Uncharted“- und „Last of Us“-Macher Naughty Dog, die „Horizon“-Holländer von Guerrilla, Sucker Punch („Ghost of
Tsushima“), Media Molecule („Little Big Planet“, „Dreams“), Polyphony Digital („Gran Turismo“) oder Sony Santa Monica – die Mannschaft hinter dem letzten „God of War“. Hier ist man offenbar
der Meinung, dass man bereits über genügend Entwickler-Ressourcen verfügt, um auch die nächste PlayStation-Generation eifrig mit hochkarätiger Exklusiv-Kost zu versorgen. Microsoft derweil muss
seine diesbezüglichen Versäumnisse während der Xbox-One-Generation kompensieren, indem man die Lücken durch Zukäufe schließt.
Nicht immer ein Erfolg
Allerdings war der Kauf externer Teams auch bei Sony nicht immer erfolgreich: So übernahm man schon 1993 die bereits aus 8- und 16-Bit-Tagen bekannte britische Traditions-Schmiede Psygnosis, um
schnell attraktive Spiele für die erste PlayStation parat zu haben – denn damals war Sony auf dem Konsolen-Markt noch ein Neuling und musste gegen die etablierten Videospiel-Platzhirsche
Nintendo bzw. SEGA antreten. Also machte man genau das, was Großkonzerne noch heute machen, wenn man in einen neuen Markt vordringt: Man kauft sich ein. Leider ging die Geschichte nach den ersten
erfolgreichen Jahren nicht gut aus: 2012 wurde das mittlerweile in „Sony Computer Entertainment Liverpool“ umbenannte Studio nach einigen letzten „Wipeout“-Veröffentlichungen endgültig dicht
gemacht – und mit ihm eine 28-jährige Firmengeschichte beendet. Und ja, vielleicht – aber auch nur vielleicht – wäre ein unabhängiges Studio nach 28 Jahren am freien Markt ganz von
alleine verendet. Denn die ganz Großen der Branche starteten entweder schon früher durch und verdienten ihre ersten Millionen bereits Ende der 70er-Jahre (Activision) oder unter anderen
Voraussetzungen: So hob Electronic-Arts-Gründer Trip Hawkins seinen berühmten Publisher zwar nur zwei Jahre vor Psygnosis (1982) aus der Taufe, aber anders als bei den Briten war der Schwerpunkt
nicht die Entwicklung, sondern von Anfang an die Vermarktung und der Vertrieb solcher Spiele, die anderen Firmen erstellt hatten. Das dafür nötige Kleingeld hatte Hawkins während seiner Zeit bei
Apple und mithilfe entsprechender Aktien-Optionen gescheffelt.
Auch der erst 1986 – und damit verhältnismäßig spät – gegründete Spiele-Riese Ubisoft entstand zuerst als Vetriebs-Firma und verdiente das erste große Geld mit Produkten von Eletronic Arts,
Sierra oder MicroProse, während man erst Anfang der 90er-Jahre damit begann, dieses Geld in eigene Entwicklungen zu stecken.
Kein Wunder, dass der Markt noch immer von den Giganten bestimmt wird, denen es von Anfang an vor allem um eins ging: Rendite und geschäftliche Expansion – für noch mehr Rendite. Welche
Chancen hat in einer solchen Landschaft ein unabhängiges Unternehmen, das dennoch auf die Investments der Großen angewiesen ist, um überleben zu können? Denn die reißen gerade deshalb so eifrig
alles an sich, was nicht niet- und nagelfest ist, weil sie sich für die bevorstehenden Content-Kriege rüsten: In einer Welt, in der Streaming und Abo-Programme eine zunehmend wichtige Rolle
spielen, geht es den Riesen vor allem darum, so viele Titel und Marken wie möglich in ihr Angebot zu schaufeln – unabhängig davon, wo genau es landet und auf welcher Plattform die Kunden es
daddeln. Denn das wird in der schönen neuen Konsum-Welt bald nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Naja, denken sie.
Raffer und Schnapper
In einer solchen Welt ist hastig zusammengeraffter Inhalt ein mutmaßlicher Vorteil – dachte sich auch Disney beim Aufbau seiner Streaming-Plattform „Disney+“: „Star Wars“, National
Geographic, Marvel, Fox – immer alles schön an sich reißen, damit man zum Start des Portals genug Inhalt bietet. Nur: Inzwischen hat man – nicht zuletzt dank Corona-bedingter
Produktions-Verschiebungen – ein Nachschubproblem und springen erste Abonnenten wieder ab, weil der Anbieter vor allem auf „alte Kamellen“ setzt, um sein Publikum zu binden. Auf diese Weise
zeigt sich, das pures Marken-Raffen nicht immer von Vorteil ist: Kurzfristig sorgt es dafür, dass den Mitbewerbern mutmaßlich wichtige Inhalte fehlen. Wie bei Netflix, die bald auf Marvel- und
Fox-Filme verzichten müssen. Oder Sonys PlayStation, deren Kunden vielleicht keine neuen „Elder Scrolls“- oder „Fallout“-Spiele mehr bekommen, weil Microsoft damit seine eigenen Kanäle
– allen voran den „Game Pass“ – schmieren möchte.
Mittel- bis längerfristig zeigen sich dagegen die Nachteile des Schnapper- und Grabscher-Syndroms, denn es hat das Potential, die Kreativ- und Studiokultur zu beschädigen. Warum sollte ein
Publisher viel Geld in die Vermarktung und Entwicklung der Projekte eines unabhängigen Entwicklers investieren, wenn genau dasselbe Studio später von einem Mitbewerber geschluckt wird? Dann hat
man mit seinem eigenen Geld – gewissermaßen – die Konkurrenz unterstützt.
Mögliches Resultat wäre ein System, in dem sich die Großen an zunehmend langweilige, weil altbackene Inhalte oder Franchises klammern, während sich die Kleinen immer stärker auf Crowdfunding oder
private Finanzierungen verlassen müssen. Weil von anderer Seite keine Finanzspritze mehr kommt. Ausgenommen vielleicht einige wenige, auf Indie-Kost spezialisierte Miniatur-Publisher.
Wer dabei endgültig auf der Strecke bleiben könnte, das ist das Feld der mittelständischen Entwicklungen – kleinere Beinahe-Blockbuster und A- bis AA-Produktionen, wie sie von Studios mit
mehreren dutzend, aber nicht mehreren hundert Mitarbeitern auf Weg gebracht werden. Und natürlich die Sorte Diversität, für die nur ein gesundes Entwickler-Mittelfeld sorgen kann – mit all
seinen Bemühungen, Innovationen und Errungenschaften. Errungenschaften und Innovationen, die das Medium Spiel zu dem gemacht haben, was es heute ist. Und hoffentlich auch bleibt.
Die Zukunft haben die Studio-Betreiber allerdings ebenso in der Hand wie die Hersteller: Niemand ist dazu gezwungen, ein lieb gewonnenes Kind zu verkaufen oder „auf ein Internat“ zu schicken.
Manchmal ist es vielleicht glücklicher, wenn man es genau da lässt, wo es ist. Auch wenn das bedeutet, dass es nicht so berühmt und erfolgreich wird. (rb)