Fast ein Spiel: "Erica"


 

Spielbarer Film oder schon ein Game? Rechtzeitig zur Gamescom überrascht Sony mit dem interaktivierten PS4-Thriller "Erica": Statt 3D-Protagonisten wie in "Heavy Rain" oder "Detroit" stehen hier echte Darsteller vor der Kamera - darunter "Doctor Who"- und "Humans"-Schauspielerin  Holly Earl.

KRITIK • PS4 • Bereits in den 80-er-Jahren experimentierten Hersteller wie "American Laser Games" mit der Liason von Spiel und Film, sogar Zeichentrick-Guru Don Bluth ("Feivel, der Mauswanderer") war mit von der Partie und bescherte der Games-Landschaft mit "Dragon's Lair" einen der ikonischsten "Interactive Movies" überhaupt: Das unter anderem in der Netflix-Serie "Stranger Things" porträtierte Fantasy-Spiel verwendet handgezeichnete und auf Laserdisc abgelegte Film-Szenen, die - je nach Controller-Input - in unterschiedlicher Reihenfolge abgespielt werden, um eine interaktive und mit Action-Elementen angereicherte Geschichte zu erzählen.

Weitere Interactive-Movie-Experimente folgten: In "Mad Dog McCree" ballerten Spielhallen-Besucher mit einer Lichtpistole digitalisierte Wild-West-Ganoven um, in "Sewer Shark" von Digital Pictures sausten sie an Bord eines Raumschiffs durch die Full-Motion-Video-Kanalisation. Bei "Night Trap" wiederum bespitzelten sie durch versteckte Kameras die Bewohner eines Hauses, um sie mithilfe von allerlei Fallen vor Einbrechern zu schützen.

Obwohl das Genre des interaktiven Films oder "Full-Motion-Video"-Games seine Fans hatte, konnte sich die Technologie nicht durchsetzen und war spätestens mit dem Durchbruch der 3D-Echtzeit-Grafik wieder vom Tisch. Inzwischen ist die Evolution des Spiele-Mediums aber so weit vorangeschritten, dass sich auch ehemals totgesagte Sparten wie der Interactive Movie wieder behaupten können: Während Firmen wie Quantic Dream ("Heavy Rain") oder Supermassive Games ("Until Dawn") hoch entwickelte 3D-Grafiken verwenden, um die Illusion einer aufwendigen Filmkulisse zu erzeugen, setzen andere neuerdings wieder auf klassisch gefilmte Szenen, um sich weit verzweigende und mal mehr, mal weniger interaktivierte Geschichten zu spinnen. Darunter zum Beispiel die Netflix-exklusive "Black Mirror"-Episode "Bandersnatch" und jetzt das von Sony produzierte PS4-Filmchen "Erica", das ebenfalls zur Mitbestimmung einlädt.

 



 

Anders als bei einem "Detroit: Become Human" oder dem ebenfalls top-aktuellen Horror-Abenteuer "Man of Medan" gibt es hier allerdings kein spontanes "Quicktime-Knöpfchen-Gehämmere, um Stress-Situationen oder Action-inspirierte Bedrohungen zu simulieren. Wie "Bandersnatch" ist auch "Erica" vom britischen Entwickler Flavourworks eher wie ein gemütliches Grafik-Adventure gestrickt - der größte Stressfaktor sind gelegentliche Zeit-Limits für die Entscheidungs-Findung. Wer zu lange bummelt, während er die dargebotenen Möglichkeiten, Sätze oder Antworten studiert, dem wird die Qual der Wahl abgenommen.

Hin und wieder unterbricht Entwickler Flavourworks seinen bespielbaren Film sogar für waschechte Adventure-Einlagen: Dann werden die Darsteller zugunsten einer "Myst"-ähnlichen Ego-Perspektive ausgeblendet und findet sich der "Spieler" in einer Ego-Ansicht wieder, aus der er zum Beispiel Bilder an einer Wand oder die Objekte auf einem Tisch in Augenschein nimmt. Komplexe Spielelemente darf man hier zwar nicht erwarten - aber auf diese Weise fühlt sich "Erica" fast wie ein echtes Spiel an und setzt sich geschickt von Titeln wie "Bandersnatch" ab. Wer aus diesem Teil des Quasi-Adventures das Beste rausholen will, der spielt es vorzugsweise mit seinem Smartphone: Hierfür lässt sich die PS4 in einen Hotspot verwandeln, der sich dann direkt per Wifi mit dem Handy kurzschließt - und schon verwandelt sich der Touchscreen des Mobiltelefons in ein Interactive-Movie-Interface, mit dem sich Türen und Kisten öffnen lassen oder man eine beschlagene Fensterscheibe trocken rubbelt. Durch dieses haptische Feedback gewinnt die Mystery-Story genau das richtige Maß an Direktheit und fühlt sich der Spieler stärker involviert.

Zugegeben: Die Geschichte um die durch einen Mord traumatisierte Protagonistin Erica und ihren Aufenthalt in dem seltsamen Sanatorium "Delphi-Haus" wirkt eher wie ein experimentell inszenierter Indie-Film als ein Blockbuster - außerdem ist die Handlung nicht so wunderbar verworren oder spannend wie in einem "Bandersnatch". Aber wer damit leben kann, der genießt unterhaltsame zweieinhalb Stunden, die dank ihrer vielen Verzweigungen und alternativen End-Sequenzen auch zur Wiederholungstat einladen. Für günstige zehn Euro eine willkommene und erzählerisch selbstbestimmte Alternative zum Kinobesuch.

 

Note: GUT (7.0)