Von den Buchhandlungen der 1980er zu den App-Stores und Streaming-Diensten der Gegenwart: Spielbücher wie „Labyrinth des Todes“ oder „Der Hexenmeister vom flammenden Berg“ haben früher Millionen verkauft, dann hat das Computerspiel sie verdrängt. Aber jetzt schlagen die Bestien aus den Buchseiten mit aller Macht zurück… digital, gedruckt und sogar auf Netflix.
von Robert Bannert
Anfang der 80er-Jahre legen die beiden Studien-Freunde Ian Livingstone und Steve Jackson eine Bilderbuch-Karriere hin: In ihrer Nerd-Wohnung entwickeln die „D&D“-Fans mit der Buch-Reihe „Fighting Fantasy“ ein weltweites Phänomen, das sie zu zigfachen Millionären und später zu den Gründern der Tabletop-Fabrik Games Workshop („Warhammer“, „Space Hulk“) machen soll. Bis Anfang der 90er verkauft das Duo über 20 Millionen „Spielbücher“, bereits vom Start-Band „The Warlock of Firetop Mountain“ gehen zwei Millionen Stück über die Ladentheke. Mehr als 100.000 Stück davon allein in Deutschland, wo der Thienemann-Verlag die verspielte Schwarte unter dem Titel „Der Hexenmeister vom flammenden Berg“ vermarktet. Das Besondere an der Buch-Serie: Anders als bei normalen Romanen wird „Fighting Fantasy“ nicht von der ersten bis zur letzten Seite geschmökert, stattdessen springt der Leser zwischen mehreren hundert, durchnummerierten Text-Abschnitten hin und her. Je nachdem, wie er sich in den verschiedenen Situationen entscheidet. Das Motto der Reihe: „You are the Hero!“ – „Du bist der Held!“
Der Singleplayer für Pen & Paper
„Der Weg endet an einem großen Höhleneingang. Willst Du die Höhle betreten, geht es weiter bei 196. Ziehst Du es vor, zur Weggabelung zurückzugehen und Dich nach Norden zu wenden, weiter bei 25“,
heißt es z.B. in „Der Forst der Finsternis“ („The Forest of Doom“) aus der Feder von Ian Livingstone. Wer falsch abbiegt, verpasst wichtige Hinweise, die er für die Lösung kniffliger Rätsel und
das Durchqueren labyrinthischer Gang-Systeme benötigt. Oder er läuft einem der aggressiven Bewohner des interaktiven Lese-Stoffes in die Fänge: Denn genauso wie ein „Pen & Paper“-Game à la
„Das Schwarze Auge“ kommt „Fighting Fantasy“ mit einem eigenen Regelsystem, mit dessen Hilfe Kämpfe und andere Herausforderungen gemeistert werden. Jacksons und Livingstones „Game-Books“ oder
„Choose-your-own-Adventure-Books“ sind der Singleplayer-Modus für das Gruppen-Rollenspiel und stimmen Millionen junger Fantasy-Fans auf das „Pen & Paper“-Erlebnis ein. Ebenso wie auf eine
Fülle von Computer-Abenteuern, die mit der Idee der sich nach Flussdiagramm-Art aufspaltenden Erlebnis-Pfade kokettieren.
Anfang der 90er-Jahre ist das digitale Medium bereits so prominent, dass die „Abenteuer-Spielbücher“, wie der Thienemann-Verlag sie hierzulande nennt, nahezu von der Bildschirmfläche
verschwinden. Serien wie „Einsamer Wolf“ von Joe Dever und Gary Chalk geben dem interaktiven Buch noch mal kurzen Auftrieb, aber dann verschwindet das gedruckte „Solo-Abenteuer“ weitgehend in der
Versenkung.
Abenteuer mit Alexa und Netflix
Bis jetzt: Der Retro-Boom hat neben Pixel-Spielen auch das interaktive Buch aus der Mottenkiste befreit. Herausgeber wie der deutsche Mantikore-Verlag profitieren mit einem umfangreichen
gedruckten Spielbuch-Portfolio von dem neuen Boom. Ein Boom, der von prominenten Themen wie „Alice im Düsterland“, Klassiker-Neuauflagen und sogar mit Videogame-Elementen veredelten
Survival-Werken befeuert wird. Aber die Renaissance des Mediums spielt sich nicht nur auf dem Papier ab: Sie findet ebenso als romantische bis unterschwellig schlüpfrige Lovestory auf dem iOS-
oder Android-Touchscreen statt, flimmert auf Netflix als interaktive „Black Mirror“-Folge „Bandersnatch“ über die Mattscheibe, feiert als Spielbuch-Comic Millionen-Erfolge und dringt sogar als
interaktives Hörbuch aus amazons Echo:
„Willst Du links in das Geschäft gehen oder rechts die dunkle Gasse untersuchen?“
„Ich nehme die Gasse!“
„Kaum bist Du in der Gasse angekommen, stürzt sich ein eine pelzige, klauenbewehrte Bestie auf Dich und reißt Dich unter schmatzenden Geräuschen in Stücke! Du bist tot!“
„Verdammt!!!“
„Ok, ich spiele 'Verdammt lang her' von Andreas Gabalier auf amazon Music.“
„Neeeeeein!!!!“
Nicht ganz so blutig, aber mindestens genauso interaktiv ist die Echo-Story „Schmusetiger Ferdinand“ von Florian und Christian Sußner. Die als Alexa-„Skill“ aktivierbare Kindergeschichte führt
das Erlebnis Buch bzw. Hörbuch an ein junges Publikum heran, indem man es mit Elementen kreuzt, wie man sie sonst nur aus Computer- und Videospielen kennt.
Doch auch das klassische, gedruckte Spielbuch-Medium wird vom Autoren-Gespann Sußner & Sußner weiterhin bedient: Zusammen haben die beiden das Fantasy-Abenteuer „Die Feuer des Mondes“
ausgearbeitet, nächstes Jahr soll das in einer „Sin City“-artigen 80er-Jahre-Stadt spielende „Somora“ erscheinen. Zwischendurch haben die Brüder außerdem „Escape-Bücher“ geschrieben – die
besonders Rätsel-lastige Spielbuch-Version eines Escape-Rooms.
Florian Sußner, der außerdem regelmäßig Buch-Lesungen an Schulen hält, beobachtet immer wieder, dass gerade Games-affine Teenager begeistert auf die Lese-Art Spielbuch ansprechen: „Dabei sage ich
Eltern und Lehrern ständig: Dass Eure Kinder nur Games zocken, das liegt daran, dass sie Bock auf die Welten haben, die darin abgebildet werden. Also gebt Ihnen die gleiche Sorte Spielprinzip und
Erlebniswelt als Buch! Wenn man Gamer mit etwas zum Lesen bringt, dann sind es Spielbücher!“
Keep it simple
Anders als viele ihrer Autoren-Kollegen legen die Sußners dabei keinen gesteigerten Wert auf komplexe Spielregeln – ihnen geht es vor allem um die Erzählung: „Bei den alten Spielbüchern von
Livingstone und Jackson habe ich fast immer geschummelt, wenn ich einen Kampf verloren habe – wie vermutlich die meisten anderen Leser auch. Dann kann man die Regeln im Grunde doch gleich
weg lassen, oder?", meint Florian im Gespräch mit IGM.
Gesagt, getan: Für „Somora“ haben die beiden das Regelwerk komplett gestrichen – stattdessen gibt es eine sich weit verzweigende Geschichte, deren Ausgang der Leser durch seine Entscheidungen
maßgeblich mitbestimmt. Wie in einem Adventure-Game von Telltale. Denn: Trotz ihrer Leidenschaft für das geschrieben Wort sind auch die Sußners passionierte Gamer. Nicht umsonst haben sich die
beiden gerade erst an der Gründung eines ehrgeizigen Startups beteiligt: Ihre „Messengerbooks“ transportieren einen interaktiven und sich nach Spielbuch-Art verzweigenden Noir-Krimi auf den
Facebook-Messenger. Hier wird der Spieler von einem KI-gesteuerten Detektiv kontaktiert, der ihm von seinen Erlebnissen berichtet und dabei regelmäßig um Rat bittet: „Ich schleiche vorsichtig
nach hinten zu der kleinen Tür. Mit der Hand stoße ich sie auf. Dahinter: eine alte, kleine Küche. Es ist schwer zu sagen, ob sie regelmäßig benutzt wird.“ Dann die Wahlmöglichkeiten: „Geh rein“
oder „Geh zurück“.
Im Augenblick bieten die Sußners und ihre Partner die Messenger-Gamebooks kostenlos an, nach dem Testlauf
werden sie für vergleichsweise kleines Geld verkauft.
Nicht ganz so simpel
Ein Rollenspiel-Oldtimer, der trotz seiner Passion für Video-Games ebenfalls zu den Architekten der neuen Spielbuch-Welle gehört, ist Swen Harder: Tagsüber testet Harder Switch- und 3DS-Spiele
bei Nintendo, nach Feierabend versinkt er in fantastischen und bizarren Erzählwelten. Ebenso wie die Werke der Sußners oder der Spielbuch-Mega-Hit „Alice im Düsterland“ von Jonathan Green
erscheint Harders interaktiver Blätterdschungel im Mantikore-Verlag. Denn der hat sich seit einigen Jahren fast vollständig auf Spielbücher eingeschossen – und das mit großem Erfolg. Harders
humoriges „Metal Heroes and the Fate of Rock“ sowie sein Referenzwerk „Reiter der schwarzen Sonne“ kombinieren das klassische Spielbuch mit modernen Gaming-Elementen: Darunter einstellbare
Schwierigkeitsgrade, Save-Points, alternative Enden, Boss-Gefechte und eine Art intelligente "Benutzeroberfläche", die sich allein mit Bleistift und Papier bändigen lässt. Das funktioniert gleich
so gut, dass der stolze 1.355 Spielabschnitte starke Wälzer in vier Sprachen übersetzt wurde und außerdem als Special Edition mit CD-Rom sowie Soundtrack zu haben ist.
Romane schreibt Harder nicht, weil ihm das vergleichsweise „langweilig“ erscheint. „Ich wollte das System hinter einem Spielbuch verstehen und sehen, wie man mit den Problemen, die einem das
Medium als Autor auferlegt, umgehen und es dabei vielleicht sogar zu neuen Limits treiben kann“, erklärt er uns. Und weiter: „Natürlich unterscheidet sich das Storytelling von dem eines
klassischen Romans. Aber auch bei Spielbüchern gibt es ganz verschiedene Ansätze, wie man eine Geschichte erzählen kann. Manche Autoren bevorzugen dabei eine sehr stark verzweigte Struktur, die
viele unterschiedliche Handlungsstränge mit generischen Helden bietet. Aber mir geht es vor allem darum, eine packende Story zu erzählen, bei der ein Protagonist und seine Heldenreise im
Mittelpunkt stehen.“
Abschnitt für Abschnitt ins Digitale
Auch für die komplexe Verknüpfung und numerische Sortierung der vielen Textabschnitte gehen die Autoren unterschiedlich vor: Während der 80er haben dafür viele Schriftsteller meterlange
Flussdiagramme gekritzelt. Dann wurden per Schreibmaschine oder frühem Heimcomputer getippte Textabschnitte ausgeschnitten, anschließend auf Blanko-Blätter geklebt und schließlich händisch
nummeriert. Florian Sußner und sein Bruder wiederum haben dafür automatische Tools programmiert, während Swen Harder mit der Suchfunktion seiner Textverarbeitung durch einen Dschungel von
Text-Stationen navigiert, bevor er die Abschnitte manuell mit Ziffern versieht.
Zu den von Harder erwähnten „klassischen Roman-Autoren“ gehört Lena Falkenhagen: Die außerdem auf Game-Stories spezialisierte Schriftstellerin und „Narrative Designerin“ hat bis heute neun Bücher
veröffentlicht. Darunter historische Romane wie „Die letzte Hanseatin“, aber auch Rollenspiel-affine Kost unter dem bekannten deutschen Paper'n'Pencil-Franchise „Das Schwarze Auge“. Passend dazu
hat Falkenhagen an dessen Computerspiel-Umsetzungen „Drakensang: Am Fluss der Zeit“ und „Drakensang Online“ mitgearbeitet. Ihre Erfahrung bei der Umsetzung interaktiver Stoffe kam der Autorin bei
ihrem ersten „Gamebook“ entgegen: „Beim Schreiben ist dieses Medium durchaus anspruchsvoll, weil man eben mehr als nur die Story im Blick haben muss. Tatsächlich habe ich dieses Jahr ein
digitales Spielbuch für den CARLSEN-Verlag geschrieben, das 2019 erscheint – und darauf werden vermutlich weitere folgen. Bei Text-Game-Books gibt es kaum mehr Einschränkungen als beim Roman.
Geht man dagegen in den digitalen Bereich, bekommt man aber schnell ähnliche Budget-Probleme wie beim Computerspiel: Da wollen Hintergrundgrafiken gezeichnet und animiert werden, braucht man
Effekte sowie Ton und eventuell noch Hintergrundmusik. Das alles kostet und beschränkt manchmal die Story. Man muss sauber im Voraus planen und kann nicht mal eben einen Charakter einfügen oder
eine neue Szene an einer Location eröffnen, ohne dass der oder die Produzent(in) im Dreieck springt.“
Warum der Boom?
ber warum erleben Game-Books überhaupt eine solche Renaissance? Woher die neu entfachte Begeisterung für das Medium? Und werden sie auf Dauer mit digitalen Spielen koexistieren können?
„Mit Solo-Abenteuern oder -Apps ist man unabhängig von anderen Spielern, kann aber trotzdem 'mehr als ein Buch' erleben – sozusagen ein interaktives Buch“, vermutet Falkenhagen.
Auch Swen Harder glaubt, dass der „Singleplayer-Faktor“ der Spielbücher heute vielen Konsumenten entgegenkommt: „Ich glaube, dass viele Rollenspieler im Gruppen-Exil nun vermehrt zum
Spielbuch-Methadon greifen“, erklärt er schmunzelnd. „Ich will damit sagen, dass es immer schwieriger wird, Paper’n’Pencil-Rollenspielrunden auf die Beine zu stellen und das Spielbuch hier
zumindest ein paar spannende Solo-Abenteuer-Freuden verspricht.“
„Alles, bei dem wir selber die Entscheidungen treffen und dadurch den Eindruck erhalten, verantwortlich für die Ergebnisse zu sein, befeuert die Fantasie und sorgt dafür, dass wir uns noch mehr
mit den Figuren identifizieren können“, führt Lena Falkenhagen weiter aus. „Die Frage, ob digitale Games und Gamebooks dauerhaft nebeneinander existieren können, stellt sich mir dabei gar nicht.
Im Moment tun sie das eben. Aber auf Dauer werden sie sich vermutlich noch stärker auf mobile Geräte verlagern, weil sie auf dem Handy oder dem Tablet viel eleganter funktionieren und die ganze
Regel-Buchhaltung dabei in den Hintergrund tritt. Es stellt sich ja generell die Frage, ob Unterhaltungsliteratur künftig überhaupt noch aus Papier bestehen wird oder sich der Viel-Leser-Markt
irgendwann vollends ins Digitale verschiebt. Aber Gamebooks werden im digitalen Markt auf jeden Fall solange ein Phänomen bleiben, wie In-App-Käufe legal sind, um das Format zu finanzieren. Wer
das als Retro-Trend bezeichnet, der ignoriert, dass dieses Medium derzeit hunderte Millionen Dollar einspielt. In Deutschland kommt diese Erkenntnis seit ungefähr zwei, drei Jahren auch an. ABer
noch gibt es bei uns kein selbständiges Format, das an den Erfolg der internationalen Vorbilder 'Episodes' und 'Choices' anknüpfen könnte.“
Unser Stichwort dabei: „noch“. Denn anders als bei vollwertigen Videospiel-Projekten handelt es sich um ein Medium, das sich nach wie vor von kleinen Teams stemmen lässt. Nötig sind theoretisch
nur ein Autor und ein Illustrator – und sobald sich deren Arbeit in gedruckter Form bewährt, lässt sie sich vergleichsweise einfach digitalisieren. Je nachdem, wie aufwändig man es gerne hätte.
Wie zum Beispiel die Klassiker von Ian Livingstone und seinem Rollenspiel-Spezi Steve Jackson, die an ihren vor über 30 Jahren getippten Büchern noch immer verdienen. Diesmal auf Smartphones und
Tablets. Würfel-, Rechen- und Notiz-Arbeiten übernimmt bei den digitalen „Fighting Fantasy“-Schmökern das Programm, die Entscheidungen trifft nach wie vor der Spieler. Ach ja: Lesen sollte er
natürlich auch können.
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