Ein Herz für Blockbuster-Werwölfe

oder: Das Killcount-Sequenzdauer-Feature-Verkaufspreisverhältnis

Diese Szene aus dem PS4-exklusiven "The Order 1886" scheint symbolisch für die aktuelle Blockbuster-Landschaft: AAA-Titel wie der abgebildete werden immer häufiger von den überzogenen Erwartungen vieler Kunden regelrecht "aufgespießt".



Als mein geschätzter Kollege und guter Freund Thomas Nickel (wie meine Wenigkeit freier Autor, außerdem Dozent an der Games Academy in Frankfurt) bei einem unserer seligen Podcast-Gespräche immer wieder betonte, dass sich das AAA-Modell bald selber in den Arsch kneifen würde, da wollte ich ihm nicht so recht glauben. Thomas ist passionierter Retronaut, und zudem noch ausgesprochener 2D- und Pixelkultist. Während ich meine rituellen Tieropferungen in "Far Cry 4" begehe (da gibt's beim Haus der Ghales praktisch nebeneinander gelegen einen Schweine-Zwinger und einen Altar), da opfert Thomas vermutlich irgendeine 16Bit-RPG-Sau und schaut genießerisch dabei zu, wie sich eine feine Pixelfontäne über den klötzchzenartigen Opferstein ergießt. Und dazu raunen ein paar Mönch-Sprites in langen Roben von Nobuo Uematsu komponierten Synthie-Singsang. 

Jetzt, etwas über zwei Jahre später, beginne ich zu glauben, dass Thomas Recht hatte: 2014 hatte einige Spiele-Hits, doch keiner davon konnte die ihn gesetzten Erwartungen so richtig befriedigen – und 2015 scheint sich die Serie derjenigen Titel, die das 'Versprechen Next-Gen' nur beinahe erfüllen, weiter fortzusetzen. Letztes Jahr haben wir gemeckert, weil die herbeigesehnten Hits sich nicht nach der Sorte High-End-Spektaktel angefühlt haben, für die wir uns eine PS4 respektiven Xbox One gekauft haben. Oder weil sie uns zu viele Bugs, Monster-Patchtes und scheinbar unmenschliche Monetarisierungs-Mittel zugemutet haben. Dieses Jahr wiederum shitstormen wir, weil ein Titel zu kurz ist. Und viel zu wenig Interaktion bietet. Auch wenn er uns mit genau der Sorte Grafik- und Inszenierungs-Spektakel verwöhnt, die wir 2014 unbedingt haben wollten – und das auch noch ohne größere Fehler. Doch zufrieden waren wir deshalb noch lange nicht – denn auf einmal ist ein Spiel böse, wenn es sich so sehr auf seine spektakuläre Präsentation verlässt, dass es darüber die inneren Werte vergisst. 

Doch hat der Angeklagte – "The Order 1886" – die überhaupt vergessen? Mehr als ein "Gears of War", das den hier zelebrierten Deckungs-Mechanismus damals quasi erfunden hat und das nicht zuletzt wegen seiner visuellen Qualitäten gefeiert wurde? Oder mehr als ein "Heavy Rain" bzw. "Beyond", die beide außer Quicktime-verwandtem Knöpfchendrücken fast überhaupt keine Interaktion bieten? Oder ein Telltale-Advenure á la "Walking Dead", das eher einer Krezung aus Serie und interaktivem Comic ist als ein vollwertiges Spiel? 

Klar, Telltale-Titel und die Quantic-Dream-Abenteuer leben außer von ihrer Aufmachung und Erzählung vor allem von ihrem 'Spielbuch-Charakter': Es geht nicht darum, unsere Fertigkeiten als Spieler abzufragen – sondern darum, dass wir Entscheidungen treffen dürfen, die den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen. Solche Entweder-Oder-Entscheidungen sind das letzte Element echter Entscheidungsfreiheit, das man uns hier noch zugesteht. Sie machen den Beinahe-Film letzten Endes doch noch zum Spiel. 

Das eigentliche Dilemma von "The Order" ist also, dass es die Nische zwischen zwei etablierten Spielkonzepten besetzt – der des gespielten Films und der des filmartig aufbereiteten Spiels. Zur letzteren Disziplin gehören Film/Action-Hybriden wie "Uncharted" oder "The Last of Us", die uns ebenso wie die ritterliche Werwolfjagd durch einen filmisch aufbereiten Story-Schlauch zwingen. Die 'Filmzwischenräume' mit vergleichsweise platter Action, ein paar Kraxelein oder Geschicklichkeitstests strecken. Auf diese Weise befriedigen gerade Sony-Studios gerne die Baller- und Inszenierungs-Lust eines Publikums, das an eine cineastische Entertainment- und Blockbuster-Rezeptur gewöhnt ist, während es gleichzeitig leicht verdauliches und handliches Rambazamba haben will. Also gerade genug Aktion, um den Kauf einer Spiele-Hardware anstelle eines Bluray-Players zu rechtfertigen und uns auch in den Momenten wach zu halten, in denen wir sonst längst vorm Fernseher eingeschnurchelt wären.
Doch ursprünglich in der Gameplay-Ecke beheimatete Studios wie Naughty Dog verstehen sich meisterlich darauf, uns trotzem die Illusion von Selbstbestimmtheit und ECHTEM Spiel vorzugaukeln. Ein Kunststück, das man u.a. vollbringt, indem man Mechanismen aus spielerisch freizügigeren Titeln wie "Tomb Raider" importiert. Oder aber den Handlungsschlauch mit vielen offenen Türen säumt, die in zwar meist leere, bedeutungslose Räume führen, die uns aber das Gefühl von Bewegungsfreiheit vermitteln, wo eigentlich gar keine ist.

"The Order" dagegen bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen diesen beiden Extremen – und bricht dabei offenbar für die Anhänger beider Extreme mit zu vielen erlernten Rezept-Elementen. Und das, obwohl sich im Grunde beide Welten die selbe DNA teilen. Vor diesem Hintergrund ist "The Order 1886" aber vor allem ein Testament für die wachsenden Probleme des Blockbuster-Modells und des System-exklusiven Möchtegern-Hardware-Sellers: Konzepte wie die von "Uncharted" sind ursprünglich aus dem Wunsch heraus entstanden, eine möglichst breite Zielgruppe zu bedienen, um die explodierenden Produktions-Kosten und damit verbundenen Risiken abzufedern. Budgets von 50 und 100 Mio. Dollar sind bei derartigen Titeln längst Standard – also versucht man, es so vielen Kunden wie möglich Recht zu machen. Problematisch wird diese Gratwanderung allerdings, wenn man die Kundenerwartungen auf einmal nicht mehr abschätzen kann – z.B. weil sich das Kaufverhalten und die Erwartungen der angepeilten Gruppe schneller verändern als die Entwicklung des Produkts dauert. 
Bis zum Anbruch der PS3- und Xbox-360-Ära waren Videospielkonsolen noch ein eigenständiges Ökosystem, deren Spieler und Produkte sich maßgeblich von denen der konkurrierenden PC-Welt unterschieden haben. Doch inzwischen leben wir in einem Universum, in dem sich PC- und Konsolen-Kosmos annähernd gleichen. In dem Free2Play-Games die dominante Spiele-Spezies geworden sind, Games wie selbstverständlich mit der Netzwelt verknüpft sind, der Gelegenheits-Daddelismus auf Handies bzw. Tablets ausgewandert ist und der klassische Konsolen-Zock vom Ausstorben bedroht ist. Die Sorte Spiel, die für Joypads, Couch, Mega-Fernseher und Heimkino entwickelt wurde. Spiele wie "Uncharted" sind die Erben dieser Epoche – doch abseits dieser Aushängeschilder scheint kein Platz mehr für neue Iterationen dieses Spielgefühls. Denn wir stehen noch immer am Anfang einer neuen Hardware-Generation – und Spiele-Konsumenten wie Spiele-Lieferanten tun sich sichtlich schwer damit, sich neu zu erfinden. Keiner weiß so recht, wohin die Straße führt – in Richtung von noch  mehr Online-Features? Zu purer Ingame- und Micro-Transaction-Monetarisierung? Einerseits wollen die Kunden mehr Indie-Feeling und Gameplay – andererseits mehr Grafik und Technik, die zeigt, was eigentlich in ihrer schicken Neuanschaffung steckt. Sie wollen laute und doch ruhige Töne. Plattes Effektgewitter und bedeutungsschwangere Fabel in einem. Alles und nichts. 

Fragt sich nur: Was sollen Entwickler und Publisher zuverlässig liefern, wenn die Spieler selber nicht so recht wissen, was sie wollen? Und das für 50 bis 100 Mio. Dollar pro Spiel? Im Zweifelsfall packt man dann alles auf einmal in ein einziges, unschuldiges Projekt – und das Resultat sind Titel, die sich nicht mehr wie eine Idee, sondern wie reine Feature-Sammlungen anfühlen. Feature-Sammlungen, die auf allen Hochzeiten tanzen und aus Prinzip mehr Spielzeit auffahren müssen als die meisten Spieler überhaupt aufbringen können. Denn der schlichte Umstand, dass man den Wert eines Produkts weder an seiner Spieldauer noch der Anzahl seiner Features messen kann, ist irgendwann zwischen dem klassischen Arcade-Shooter und einem "The Order" verloren gegangen. Zusammen mit der Erinnerung daran, dass es mal eine Zeit gab, in der sich Spieler nichts sehnlicher gewünscht haben, als durch eine realistische Simulation des Todesstern-Endkampfs zu rasen und dabei autonom entscheiden zu können, wie bzw. wohin sie ihren Jäger genau steuern. Ganz gleich wie lang dieser Flug nun dauert. Einige dieser Spieler meckern heute darüber, dass ein "The Order 1886" für 70 Euro zu kurz ist. Obwohl sie 1996 ohne zu zögern für nur eine halbe Stunde mit diesem Spiel ihr Haus, ihr Auto und ihre Seele verpfändet hätten. Und noch dazu einen Kredit aufgenommen und ihre Kinder in ein Dritte-Welts-Bordell oder eine Schuhfabrik verkauft. Doch leider ist genau diese Zielgruppe heute so sehr damit beschäftigt, der guten alten Zeit nachzuweinen, dass sie die Konsolen als letzte Verteidigungslinie dieser Ära weitgehend unbemannt lässt, während die Angreifer aus dem Mobile- und Free2Play-Lager bereits den Rammbock rankarren und die Mauer untertunneln. 

Der Teufelskreis aus wachsendem Entwicklungs-Aufwand auf der einen und stetig steigenden Kundenerwartungen auf der anderen Seite ist dabei wie eine Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt – bis ihr irgendwann die Kraft ausgeht, und sie ihr Hinterteil wieder ausspuckt.

Darum mein Tipp: Wenn Ihr ein "The Order 1886" nicht kauft… dann kauft es Euch deshalb nicht, weil er einfach nicht Eurem Geschmack entspricht. Weil Ihr die Atmosphäre nicht mögt, Steampunk bescheuert findet, Backenbärte eklig und Koteletten zum Kotzen. Weil Ihr eine Werwolfs-Fell-Allergie beklagt, die hygienischen Zustände im spätviktorianischen London inakzeptabel findet und Euer Geschäft nicht über einem Loch im Boden verrichten möchtet. Weil Ihr Euch bei energischem Quicktime-Knöpfchendrücken regelmäßig die Glasknochen brecht, Action-Legastheniker seid oder generell etwas dagegen habt, wenn schnauzbärtige Hallodris armen Pelztierchen einen Kugel auf den Pelz brennen. Oder Eure Vorstellung eines perfekten Spiels in der Buchung eines Open-World-Urlaubs besteht.
Ist der Grund für Eure "Order"-Abstinenz dagegen eine in Euren Augen zu kurze Spieldauer oder eine schlecht ausgewogene Balance zwischen der Anzahl an getöteten Gegnern und den beim Sequenz-Zuschauen verbrachten Minuten… ein unzureichendes Killcount-Sequenzdauer-Feature-Verkaufspreis-Verhältnis… DANN schlage ich vor, dass Ihr Euer Verhältnis zu Spielen dringend überdenkt. Und wenn Ihr die mathematische Formel hinter diesen Faktoren gefunden habt, die ewige Spielspaß-Glückseligkeit verheißt – dann lasst sie mich bitte wissen. Danke. (rb)